Dostojewski für den Hausgebrauch


Dostojewski ist tough, selbst für hartgesottene Lesende. Und er ist verbunden mit großen Erwartungen. Also wagen wir uns ehrfürchtig und vorfreudig an die großen Werke wie Verbrechen und Schuld oder Die Brüder Karamasow, in dem naiven Glauben, dass unsere großen Erwartungen sich ganz von selbst erfüllen. Aber so ist es nicht. Immer wieder erlebe ich, dass bei Erstlesern eher Frust als Freude aufkommt. Das will und kann vermieden werden! Deshalb kommt hier meine Empfehlung für einen leichteren Zugang und eine gelungene Erkundung seines Werks.

Warum Dostojewski schwer zugänglich wirkt


Im Privaten bin ich in der Buch-Bubble auf Insta unterwegs. Eigentlich wollte ich dort eine hübsche, kleine Reszension zu den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch schreiben, weil es mir in den letzten Tagen immer wieder vor die Füße gespült wird. Aber so leicht lässt Dostojewski sich nicht abfrühstücken. Ein kleines Rezensiönchen? Nö. Nicht mit ihm. Standesgemäß will in seinem Zusammenhang etwas weiter ausgeholt und etwas über das Gesamtwerk gesagt werden. Denn daraus ergibt sich ein ganz guter (individuell anwendbarer) Wegweiser, wie sich Dostojewski am besten erschließen lässt.


Zu aller erst liegt es mir am Herzen, ein paar Worte darüber zu verlieren, dass seine kleinen Romane (wie Weiße Nächte, Der Spieler oder eben das Kellerloch) anders funktionieren als die großen Brocken (Die Brüder Karamasow, Schuld & Sühne, Der Idiot). Denn das hat viel damit zu tun, warum bei Dostojewski manchmal eher Frust statt Freude aufkommt. Auch wenn die großen Werke bisweilen eine stärkere Anziehungskraft auf uns Lesende ausüben, ist es hilfreich, bei der ersten Annäherung nicht direkt ins Auge des Sturms zu springen, sondern sich behutsam zu nähern, um zu begreifen, was da vor sich geht. Denn ja: Dostojewski Lesen ist etwas anderes als alles andere, in vielen, vielen Hinsichten. Und ganz bestimmt ist es etwas anderes, als man erwartet hat.

Dostejewski macht ernst

Außerdem vor der Lektüre wichtig zu wissen: Dostojewski hat’s ernst gemeint. Das mit der Literatur. Er deutet nicht an, er skizziert nicht, er bleibt nicht im Ungefähren. Nie. In keinem seiner Werke. Dostojewski macht seine Sache gründlich. Er nutzt Literatur, das Mittel der Erzählkunst und der ausdifferenzierten Sprache, um erfahrbar zu machen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Das ist seine Grundfrage, immer.

Um dieser Frage nachzugehen, bedient er sich in seinen Werken verschiedener Archetypen und existenzieller Themen wie Moral, Obsession, romantische und spirituelle Liebe, Vernunft, Freiheit, Zynismus, Gesellschaft, Identität, Glaube, Mord, Selbstmord etc. pp. Diese universellen Themen des Menschseins machen sein Werk zeitlos gültig. Und eben ausgesprochen umfangreich!


Die kleinen Romane:
eine Perspektive, ein Thema, ein Brennglas

Deshalb meine Empfehlung: Fangt mit den schmalen Romanen an. Ja, auch dann, wenn ihr eigentlich keine Angst vor 1.300-Seiten-Kloppern habt. Warum?

Der Unterschied zwischen Dostojewskis kleinen Werken zu seinen dicken Wälzern liegt nicht einfach in der Länge, sondern in der Erzählweise (!). Die schmalen Romane sind ganz einfach Ich-Erzählungen. Damit einher geht schlicht und ergreifend, dass wir in Kopf und Herz eines Helden oder Antihelden schlüpfen, uns mit einer Weltsicht und einem Grundthema auseinandersetzen – aus nur einer Perspektive.

  • In Weiße Nächte ist das der namenlose Träumer mit dem Thema der Sehnsucht, der Liebe und ihrer vermeintlichen Unmöglichkeit.
  • Im Kellerloch begegnen wir dem Zyniker und Zersetzer, dessen zerstörerische Macht vor nichts haltmacht, nicht mal vor sich selbst.
  • Im Spieler stürzen wir mit dem (diesmal nicht namenlosen) Ich-Erzähler in seine fiebrige Welt voller Besessenheit, Sucht und Obsession.


Das alles ist harter Tobak – bleibt aber händelbar.


Die großen Werke:
Vielstimmigkeit und Konfrontation

Ganz anders funktionieren die großen Romane: Hier wird das ganze Spiel potenziert, durch den auktorialen (bisweilen ans personale grenzenden) Erzähler, der uns ganze Figuren-Ensembles zumutet – in nicht minderer Ausführlichkeit pro Figur und mit einer psychologischen Tiefe, die nach wie vor ihres Gleichen sucht. Statt einer Stimme und einer Perspektive haben wir jetzt also viele davon, und Dostojewski dekliniert sie ALLE durch, konsequent bis ins letzte Detail. Wie gesagt, er macht seine Sache gründlich.

Und als ob das nicht genug wäre, lässt er diese verschiedenen Weltanschauungen dann auch noch gnadenlos aufeinanderprallen, in teilweise seitenlangen Dialogen (& Monologen!), die einem Theaterstück gleichen. Da kann einem schon mal blass ums Näschen werden! Die Brüder Karamasow sind dafür ein wunderbares Beispiel, mit

  • Aljosha, dem Gottergebenen in reinster Güte
  • Mitja, dem leidenschaftlichen Stürmer und Dränger,
  • und mit Iwan, dem vernunftbegabten Rationalisten.


Nicht zu vergessen den saufenden, niederträchtigen Materialisten-Vater (und viele mehr!). Dabei benutzt Dostojewski keine seiner Figuren als Sprachrohr oder lässt seine Werke zu Traktaten verkommen. Stattdessen lässt er Vielstimmigkeit zu und lässt viele verschiedene Weltanschauungen nebeneinander coexistieren – was ihn zusätzlich zu seiner Zeitlosigkeit auch brandaktuell macht. Da gibt’s kein Entweder-Oder. Da gibt’s sowohl-als-auch. Und vielleicht sogar: Alles ist wahr.

Dostojewski im Spiegel der Zeit

Ein weiteres winziges Detail, das noch on top kommt und Dostojewski beim Schreiben wichtig war: Diese schillernden und tiefschürfenden Figuren-Ensembles entfalten ihren bisweilen monströsen Reigen vor dem Hintergrund des russischen Zarenreiches des 19. Jahrhunderts. Seine Romane waren immer auch Abrechnungen mit den gesellschaftlichen Zuständen jener Zeit. Also, sagt mir: Wie könnte das alles für uns dopamingeschwängerte moderne Westeuropäer leicht zugänglich sein? No offense, wir sitzen alle im selben Boot.

Dennoch: Seine Themen sind so alt wie die Menschheit selbst und seine Protagonisten so menschlich wie du und ich und alle, die wir kennen (oder zumindest irgendjemand, den wir kennen…). Ich sage: Es lohnt sich. Vielleicht ist Dostojewski kein Snack, bestimmt auch nicht immer das rauschende Festmahl, das man erwartet. Aber ganz bestimmt ist er eine literarische Vollwertmahlzeit, die den intellektuellen Hunger nachhaltig stillt.


Fazit:
Behutsam ins Auge des Sturms

Aber wenn ihr anfangt, macht es euch nicht schwerer, als es ohnehin schon ist (und wir haben noch nicht über seinen Stil gesprochen!). Fangt mit einem schmaleren Bändchen (s.o.) an und wählt einfach das Thema, das euch am meisten anspricht. Wenn ihr mit seiner Stimme, seinem Stil und seiner Intensität vertraut seid, könnt ihr euch an die großen Wälzer wagen – wohl wissend, oder zumindest ahnend, was euch erwartet. So hab ich’s gemacht.

Nähert euch behutsam dem Auge des Sturms. Und dann lasst euch mitreißen. Es lohnt sich.


Und gestattet mir eine kleine Frage am Ende, die mich doch beschäftigt, ob der immer wieder aufkeimenden Kritik an Dostojewskis Ausführlichkeit: Sind denn dafür Romane nicht da? Sind denn das nicht jene Orte, an denen Schreibende tiefer schürfen dürfen, als es uns das Oberflächenspiel unseres täglichen Lebens erlaubt? Und an denen sie den Raum und die Zeit finden, ihre Gedanken zu Ende zu denken, ohne Rücksicht auf die geistigen Kapazitäten des Gegenübers?

In diesem Sinne:
Gehabt euch wohl und never stop reading!

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